Corona und die Folgen: Mit Arbeits- und Sozialpolitik gegen die Auswirkungen der Krise
"Wer bezahlt die Krise? Das wird die entscheidende politische Frage der nächsten Monate. Für uns ist klar: Es dürfen nicht die Transfergeldbeziehenden, die Niedrigverdienenden, die Kinder, die Alleinerziehenden, die Rentnerinnen und Rentner sein. Umverteilung von oben nach unten ist das Gebot der Stunde." sagt Katina Schubert.
60. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 04. Juni 2020
Zu Aktuelle Stunde "Corona und die Folgen: Mit Arbeits- und Sozialpolitik gegen die Auswirkungen der Krise“ (auf Antrag der Fraktion Die Linke)
Katina Schubert (LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Vermutlich hat Anfang des Jahres, als wir die Nachrichten aus China bekamen, niemand erwartet, dass wir in eine solch tief greifende Pandemie und in eine solch tief greifende gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Krise hineingeraten. Die Infektionszahlen sind in Berlin und in Deutschland vergleichsweise niedrig. Zum Glück! Das liegt vermutlich daran, dass die Politik, dass unser Senat frühzeitig Maßnahmen ergriffen hat, um die Pandemie einzudämmen.
[Carsten Ubbelohde (AfD): Frühzeitig?]
Wenn es nach Ihnen ginge, wären gar keine Maßnahmen ergriffen worden.
[Gunnar Lindemann (AfD): Natürlich!]
Die nötigen uns hier sogar, eine namentliche Abstimmung ohne Rücksicht auf Hygieneregeln durchzuführen. Halten Sie einfach den Mund.
Der Shutdown, die Schließung von Geschäften, Kultureinrichtungen, Sportstätten, im gesamten Hotel- und Gaststättenbereich, die Einschränkung bei den körpernahen Dienstleistungen bis hin zu den Zahnärztinnen und Physiotherapeuten hat die Kurzarbeit und die Erwerbslosigkeit in Berlin schon lange nicht mehr bekannte Höhe getrieben. Erstmals seit fünf Jahren haben wir wieder eine zweistellige Arbeitslosenzahl. Mehr als 38 000 Firmen haben Kurzarbeit angemeldet. 47 000 Menschen haben während der Krise ihre Arbeit verloren. Die coronabedingten Kündigungen liegen in Berlin über dem Bundesdurchschnitt. Warum ist das so? Berlin ist Dienstleistungsmetropole, und Berlin ist immer noch Hauptstadt prekärer und oft auch nur bedingt existenzsichernder Arbeit. In dieser Krise zeigen sich in unserer Stadt die dramatischen Folgen der Niedriglohnstrategie, die jahrelang von den verschiedenfarbigen Bundesregierungen verfolgt wurden. Wer nur den Mindestlohn oder nur knapp über den Mindestlohn verdient und jetzt Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld bekommt, der oder die kann davon nicht leben. Der Weg führt direkt zum Jobcenter zu ergänzendem Hartz IV.
Viele Beschäftigte im Hotel- und Gaststättenbereich bekommen noch nicht einmal Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Als geringfügig Beschäftigte oder mit Minigehältern plus Schwarzgeld landen sie direkt in Hartz IV.
Der Senat hat auf die Krise schnell reagiert und verschiedene Hilfsprogramme für die Unternehmen, die Kultur, die Soloselbstständigen, die sozialen Einrichtung aufgelegt. Das ist gut und notwendig. Dafür vielen Dank!
Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir darüber nachdenken müssen, wie wir weitere Förderungen auch in gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Kriterien binden können. Dazu zählen gute Arbeit, tarifliche Bezahlung, Bereitschaft zu betrieblicher Ausbildung, ökologische Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit. Wie kann es sein, dass die Bundesregierung neun Milliarden Euro zur Rettung eines einzigen Konzerns bereitstellt, ohne dass diese Kriterien wirklich erfüllt werden? Neun Milliarden für die Lufthansa, und die kündigt jetzt Arbeitsplatzabbau an. Ich glaube, das geht nicht.
Auch im Konjunkturpaket der Bundesregierung von gestern Abend konnte ich nichts zu guter Arbeit, Tarifbindung, Pflege oder Anerkennung der großen Leistung der Beschäftigten in der Krise lesen.
Ich weiß – ich habe das Konjunkturpaket gut gelesen –, dass die SPD echt gekämpft hat. Aber wer mit der CDU und der CSU regieren muss, bekommt halt nicht das heraus, was er herausbekommen würde, wenn wir als Rot-Rot-Grün regieren würden.
Ein Beispiel: Der Hotel- und Gaststättenbereich ruft lautstark nach weiteren staatlichen Hilfen.
Das kann ich nachvollziehen, weil die Situation in diesem Bereich dramatisch ist, der auch für unsere Stadt so wichtig ist. Aber gerade hier darf es keine bedingungslose Förderung geben. Wie heißt es immer so schön: In jeder Krise liegt eine Chance. Hier haben wir die Chance, wirklich umzusteuern, gute Arbeit und ökologische Nachhaltigkeit in den Dienstleistungen zu verankern und zur Bedingung für staatliches Geld zu machen. Das muss für uns hier in Berlin genauso gelten wie auf Bundesebene. Beide, Bund wie Länder, müssen bereit sein, schnell in Arbeit und Beschäftigung zu investieren.
Wenn die Coronakrise nicht zu einer neuen Welle von struktureller Erwerbslosigkeit führen soll, brauchen wir sinnvolle Konjunktur- und Arbeitsmarktprogramme für all diejenigen, die vor allem auf absehbare Zeit nicht zurück in ihrer alten Jobs können, weil sich ihre Branchen beispielsweise massiv verändern. Ich nenne nur als Beispiel den ganzen Bereich der Reiseunternehmen, des Businessverkehrs. Videokonferenzen machen viele Reisen demnächst unmöglich. Da werden sich richtige strukturelle Veränderungen andeuten. Darauf müssen wir reagieren.
Schon vor der Coronakrise hatten junge Menschen deutschlandweit die schlechtesten Chancen, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu erhalten. Nur 11 Prozent der Berliner Betriebe bilden aus. Viele Unternehmen haben jetzt angekündigt, ihr Ausbildungsengagement im neuen Ausbildungsjahr verringern zu müssen. Wir dürfen nicht einen ganzen Jahrgang zurücklassen. Es ist schon gut, dass die meisten Azubis im letzten Ausbildungsjahr trotz widriger Bedingungen ihre Abschlüsse machen können. Aber das reicht nicht. Auszubildende, deren Betrieb den Ausbildungsvertrag gekündigt hat, brauchen bei der Suche nach einem neuen Ausbildungsbetrieb Hilfe durch die Kammern, die Bundesanstalt für Arbeit, durch die Verbundberatung, durch die Berufsagentur.
Präsident Ralf Wieland:
Frau Kollegin! Ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wild, fraktionslos, zulassen?
Katina Schubert (LINKE):
Nein! – Es ist richtig, dass aufnehmende Betriebe dann auch eine Unterstützung bekommen, wie es jetzt auch das Konjunkturpaket der Bundesregierung vorsieht. Es ist gut, dass der Senat das Berliner Ausbildungsprogramm ausweiten will. Für die duale Berufsausbildung brauchen wir aber die Unternehmen. Auch in der Krise können sie sich ihrer Verantwortung für die jungen Menschen und der Sicherstellung ihres eigenen Fachkräftebedarfs nicht entziehen. Deshalb bitten wir die landeseigenen Unternehmen ebenso wie den öffentlichen Dienst selbst, jetzt über den Bedarf auszubilden und Vorbild zu sein.
Die Verbundausbildung ermöglicht es auch kleinen Betrieben, sich an der Ausbildung zu beteiligen. Ich appelliere an die Unternehmen, das im Interesse der jungen Menschen zu nutzen. Wer aber partout nicht ausbildet, auch wenn er es könnte, der sollte sich finanziell an der Ausbildung der Fachkräfte der Zukunft beteiligen.
Leave no one behind – lass niemanden zurück, das gilt auch für die Jugend in Berlin. Schon jetzt ist die Jugendarbeitslosigkeit überproportional angestiegen. Das ist Gift für eine solidarische Stadtgesellschaft. Auch die Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind überproportional von der neuen Arbeitslosigkeit betroffen. Deswegen ist es gut, dass sowohl die Arbeits- wie die Bildungsverwaltung mit den Sozialpartnern auf Hochtouren arbeiten, um in der Ausbildung und mit der Schaffung neuer schulischer und überbetrieblicher Ausbildungsmöglichkeiten Neues zu schaffen.
Besonders getroffen sind die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen. Viele Werkstätten sind geschlossen, Aufträge bleiben aus. Da die dort Arbeitenden nicht offiziell als Beschäftigte gelten, bekommen sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld. Der Senat hat für sie einen Rettungsschirm in Höhe von 500 000 Euro vorgesehen; das ist schon mal gut. Es ist aber jetzt schon deutlich absehbar, dass es weitere Mittel brauchen wird, denn wir dürfen die behinderten Menschen nicht zurücklassen.
In einer solchen tiefgreifenden Krise ist es überhaupt nicht egal, wer regiert. Ich bin froh, dass der Senat sichergestellt hat, dass die Träger in den sozialen, kulturellen und beschäftigungspolitischen Bereichen weiterarbeiten können und konnten und die Chance bekamen, neue digitale Formate auszuprobieren.
Die Krise hat aber auch deutlich gemacht, wie tief die soziale Spaltung unserer Gesellschaft geht. Der Aufforderung, zu Hause zu bleiben, können obdachlose Menschen nicht nachkommen. Der Maßgabe, Abstandsregelungen einzuhalten, können Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, kaum gerecht werden. Auch hier hat der Senat gezeigt, dass er kreativ Politik gestalten kann. Bundesweit einmalig hat die Senatorin dafür gesorgt, dass drei 24/7-Einrichtungen für obdachlose Menschen eingerichtet wurden. Dort können sie sich nicht nur aufhalten und die Hygieneregeln einhalten, sondern sie bekommen auch Wiedereingliederungsangebote. Die Coronakrise zeigt: Sammelunterkünfte sind nicht pandemietauglich. Wir müssen den Weg hin zu Unterkünften in Wohnungs- und Appartmentstrukturen beschleunigen. Wir brauchen die Grundstücke von den Bezirken für den Bau von modularen Bauten. Das gilt nicht nur für obdachlose und geflüchtete Menschen, sondern für alle, die in Gemeinschaftsunterkünften leben.
Diese Krise zeigt, wie wichtig das Öffentliche ist, wie wichtig es ist, dass wir mit Vivantes und Charité leistungsfähige landeseigene Kliniken haben, die die Krankenversorgung sicherstellen. Jetzt muss es darum gehen, dass für die Beschäftigten insgesamt im Gesundheitssektor gute Arbeit und bessere Arbeit geschaffen wird. Deshalb unterstützen wir den Krankenhauspackt von Verdi.
Die Krise zeigt auch, wie wichtig eine handlungsfähige Stadt ist. Für uns gilt: Wir werden nicht in die Krise hineinsparen. Wir brauchen weitere Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, in den Schulbau, in unsere soziokulturelle Infrastruktur. Wir wollen eine solidarische, weltoffene und gastfreundliche Stadt bleiben, in der niemand zurückgelassen wird. Das wird uns in den nächsten Jahren vor noch größere Herausforderungen stellen. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt für Strukturveränderungen sorgen, die Berlin als lebenswerte Stadt erhalten. Dafür brauchen wir im Bund ein Umdenken. Es kann jetzt nicht um Steuersenkungen gehen, sondern darum, die Vermögenden an der Finanzierung der Krise zu beteiligen.
Es ist gut, dass sich der Senat für eine Anhebung des Hartz IV-Satzes einsetzt; 100 Euro mehr sind schon wichtig. Leider findet sich nichts davon im Kulturpaket.
Wer bezahlt die Krise? Das wird die entscheidende politische Frage der nächsten Monate. Für uns ist klar: Es dürfen nicht die Transfergeldbeziehenden, die Niedrigverdienenden, die Kinder, die Alleinerziehenden, die Rentnerinnen und Rentner sein. Umverteilung von oben nach unten ist das Gebot der Stunde.
Warum ich jetzt über das Konjunkturpaket entlastet werde, kann ich nicht richtig nachvollziehen. Ich glaube, da müssen wir noch deutlicher und schärfer werden in dem, was Umverteilung heißt. – Danke schön!